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Wie sehen wir Deut­sche uns? Wel­che po­si­ti­ven Selbst­bil­der kön­nen wir Mi­gran­ten an­bie­ten? In sei­ner Stu­die „Die Deut­schen und ihre Mi­gran­ten - Er­geb­nis­se der eu­ro­päi­schen Iden­ti­täts­stu­die“ ver­gleicht Pro­fes­sor Dr. Ul­rich Schmidt-Den­ter vom Lehr­stuhl für Ent­wick­lungs- und Er­zie­hungs­psy­cho­lo­gie die Ein­stel­lun­gen zwei­er Ge­ne­ra­tio­nen in Deutsch­land mit der­je­ni­gen von zehn eu­ro­päi­schen Nach­bar­län­dern. Die Stu­die zeigt: Die Deut­schen zwei­feln an sich und bie­ten den Mi­gran­ten kein po­si­ti­ves Selbst­bild zur Iden­ti­fi­ka­ti­on an. Den Grund sieht der Wis­sen­schaft­ler im ein­sei­ti­gen Ge­schichts­un­ter­richt in Deutsch­land und Eu­ro­pa.

Pro­fes­sor Schmidt-Den­ter, was haben Sie in Ihrer Stu­die un­ter­sucht?

Wir haben eine kul­tur­ver­glei­chen­de Stu­die zur  per­so­na­len und so­zia­len Iden­ti­tät von Ju­gend­li­chen und ihren El­tern durch­ge­führt. Un­ter­sucht wur­den Deutsch­land und alle an­gren­zen­den Län­der.


Was be­deu­tet per­so­na­le und so­zia­le Iden­ti­tät?

Unter per­so­na­ler Iden­ti­tät ver­steht man die Be­schrei­bung der ei­ge­nen Per­son. Man geht aus von der Frage: Wer bin ich? Die so­zia­le Iden­ti­tät er­gibt sich aus der  Frage nach den Grup­pen, denen man sich zu­ge­hö­rig fühlt, und sol­chen, von denen man sich ab­gren­zen möch­te. Also die Frage: Wozu ge­hö­re ich, wozu ge­hö­re ich nicht? Aus­gangs­punkt der Stu­die waren die un­über­seh­ba­ren Eu­ro­päi­sie­rungs- und In­ter­na­tio­na­li­sie­rungs­ten­den­zen, aus denen man ab­lei­ten konn­te, dass sich sol­che Iden­ti­tä­ten min­des­tens in­ner­halb eines  Kul­tur­krei­ses wie dem eu­ro­päi­schen    zu­neh­mend an­nä­hern müss­ten.


Gibt es sol­che Ten­den­zen?

Sol­che An­nä­he­rungs­ten­den­zen haben wir auch in ei­ni­gen Be­rei­chen ge­fun­den. Meis­tens in Bezug auf die per­so­na­le Iden­ti­tät: Wie man seine Fä­hig­kei­ten und per­sön­li­chen Ei­gen­ar­ten (z.B. Selbst­wert­ge­fühl, Leis­tungs­ehr­geiz oder De­pres­si­ons­wer­te)  ein­schätzt. Bei der per­so­na­len Iden­ti­tät kam als durch­schla­gen­der Ef­fekt ei­gent­lich nur her­aus, dass die Deut­schen häu­fi­ger eine kri­ti­sche Selbst­re­fle­xi­on an­ge­ben als die Be­frag­ten in allen an­de­ren Län­dern. Zahl­rei­che­re Un­ter­schie­de gab es da­ge­gen bei der so­zia­len Iden­ti­tät. In die­sem Be­reich fan­den wir viele un­se­rer Er­war­tun­gen nicht be­stä­tigt. 


Was heißt das?

Zum Thema Frem­den­feind­lich­keit gibt es z.B. in Deutsch­land eine sehr viel in­ten­si­ve­re For­schungs­tä­tig­keit als bei un­se­ren Nach­barn. Wir dach­ten somit, dass dies ein spe­zi­fi­sches deut­sches Pro­blem dar­stellt und dass die Deut­schen  da schlecht ab­schnei­den wür­den. Das war nicht der Fall, da lagen wir im eu­ro­päi­schen Mit­tel­feld. Bei der Xe­no­phi­lie, der Of­fen­heit ge­gen­über allem Frem­den,  war es sogar so, dass die Deut­schen eine sehr star­ke Aus­prä­gung auf­wie­sen und einen eu­ro­päi­schen Spit­zen­platz ein­nah­men. Be­son­ders in­ter­es­sant war die Be­schrei­bung der Ei­gen­grup­pe. Wir wuss­ten auf­grund von so­zi­al­psy­cho­lo­gi­schen Theo­ri­en, dass Men­schen ei­gent­lich dazu nei­gen, sich mit der ei­ge­nen Grup­pe zu iden­ti­fi­zie­ren und diese auf­zu­wer­ten, weil man na­tür­lich lie­ber einer at­trak­ti­ven als einer un­at­trak­ti­ven Grup­pe an­ge­hört. Da ist es aber so, dass sich die Deut­schen selbst ab­wer­ten, also eine ge­rin­ge Ei­gen­grup­pen­fa­vo­ri­sie­rung auf­wei­sen.


Sie haben auch Mi­gran­ten be­fragt. Was be­deu­tet diese deut­sche Ei­gen­art für sie?

Für die Mi­gran­ten stellt die Ei­gen­art, das Ei­ge­ne eher skep­tisch zu be­trach­ten und stän­dig zu pro­ble­ma­ti­sie­ren, ein In­te­gra­ti­ons­hemm­nis dar.  Man mutet ihnen so­zu­sa­gen zu, sich mit etwas zu iden­ti­fi­zie­ren, was  wenig at­trak­tiv ist.  Das ist be­son­ders dann eine schwie­ri­ge Auf­ga­be, wenn sie aus Län­dern kom­men, in denen es ab­so­lut selbst­ver­ständ­lich ist, das ei­ge­ne Land hoch zu schät­zen. Eine po­si­tiv be­setz­te so­zia­le Iden­ti­tät soll dann gegen eine ne­ga­tiv be­setz­te aus­ge­tauscht wer­den. Und das ist ja wirk­lich ein un­at­trak­ti­ves An­ge­bot.


Müss­te es da nicht an­de­re po­si­ti­ve An­ge­bo­te geben, im Sinne eines po­si­ti­ven Selbst­bil­des?

Dem würde ich zu­stim­men. Die Art, wie Deut­sche mit Pa­trio­tis­mus um­ge­hen,  macht auch für die deut­schen Jun­gend­li­chen  die Ent­wick­lung einer so­zia­len Iden­ti­tät schwie­ri­ger. Wir haben ja nicht ohne Grund spe­zi­ell Ju­gend­li­che un­ter­sucht. Sie be­fin­den sich nach ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­schen Ge­sichts­punk­ten in der  Al­ter­s­pha­se, in der sich die Iden­ti­tät formt. Wir haben dabei ge­se­hen, dass  viele Ju­gend­li­che dar­un­ter lei­den, dass sie so eine un­at­trak­ti­ve Iden­ti­tät zu­ge­scho­ben be­kom­men. Sie wür­den lie­ber eine an­de­re Na­tio­na­li­tät haben. Wir haben die Frage ge­stellt: Wenn es die Mög­lich­keit einer „Wie­der­ge­burt“ gäbe  – möch­ten Sie da wie­der Deut­sche/r sein oder lie­ber etwas an­de­res. Da sagen  rund 70 Pro­zent, sie wür­den lie­ber als je­mand an­de­res ge­bo­ren wer­den. Von den ju­gend­li­chen Mi­gran­ten möch­ten 84 Pro­zent  nicht als Deut­sche ge­bo­ren wer­den.


Wo er­ge­ben sich be­son­de­re Un­ter­schie­de zwi­schen Er­wach­se­nen und Ju­gend­li­chen?

Die grö­ß­ten Un­ter­schie­de er­ge­ben sich zwi­schen den er­wach­se­nen und ju­gend­li­chen Mi­gran­ten. Bei vie­len er­wach­se­nen Mi­gran­ten wird durch­aus Na­tio­nal­stolz in Bezug auf Deutsch­land ge­äu­ßert. Sie lie­gen dies­be­züg­lich sogar über den er­wach­se­nen Deut­schen. Die ju­gend­li­chen Mi­gran­ten wei­sen da­ge­gen eine noch nied­ri­ge­re Aus­prä­gung auf als die deut­schen Ju­gend­li­chen. Dar­aus habe ich ge­schlos­sen, dass es keine fa­mi­liä­ren Trans­mis­si­ons­pro­zes­se sein kön­nen, die die Ju­gend­li­chen dazu brin­gen, die deut­sche Iden­ti­tät ab­zu­leh­nen, son­dern dass sie das von wo­an­ders her neh­men.


Woher?

Wich­ti­ge Ein­fluß­fak­to­ren bil­den si­cher­lich die Me­di­en und die Schu­le. Dort herr­schen ne­ga­ti­ve Selbst­dar­stel­lun­gen in Bezug auf die na­tio­na­le Iden­ti­tät vor.


Wie sieht es bei den deut­schen Ju­gend­li­chen aus?

Bei den deut­schen Ju­gend­li­chen ist das Thema Num­mer Eins die ge­fühl­te Be­ein­träch­ti­gung der na­tio­na­len Iden­ti­tät, die mit der „Ho­lo­caust Edu­ca­ti­on“, das heißt dem Ge­schichts­un­ter­richt über das Drit­te Reich und den Ho­lo­caust, in Ver­bin­dung ge­bracht wird.


Konn­ten Sie den Zu­sam­men­hang be­le­gen?


Es gibt sub­jek­ti­ve und ob­jek­ti­ve An­halts­punk­te dafür. Zum einen haben  wir ge­fun­den, dass die Ju­gend­li­chen das als Grund nen­nen. Das heißt, die er­le­ben das so. Zum an­de­ren zei­gen sta­tis­ti­sche  Kor­re­la­tio­nen, dass die­je­ni­gen, die sich stark be­trof­fen füh­len, auch einen ge­rin­ge­ren Na­tio­nal­stolz auf­wei­sen. Bei dem oh­ne­hin im in­ter­na­tio­na­len Ver­gleich schwach aus­ge­präg­ten Na­tio­nal­stolz der deut­schen Ju­gend­li­chen fin­det sich noch mal ein Knick nach unten im Alter von 15 Jah­ren - und das ist genau das Alter, in dem die­ses Thema im Ge­schichts­un­ter­richt be­son­ders in­ten­siv be­han­delt wird. Die­ser „Iden­ti­täts­knick“ ist nur für Deutsch­land ty­pisch. Die „Ho­lo­caust Edu­ca­ti­on“ wirkt also nicht in allen Län­dern gleich.


Ist denn ein an­de­rer Ge­schichts­un­ter­richt not­wen­dig?

Ich hiel­te es für wich­tig, neben der Ver­mitt­lung der Ge­schich­te des Ho­lo­caust und des „Drit­ten Rei­ches“, was ein wich­ti­ges Thema ist und von daher immer ge­wich­tig blei­ben wird,  auch die an­de­ren his­to­ri­schen Epo­chen an­ge­mes­sen zu be­rück­sich­ti­gen und bin­dungs­stif­tend nahe zu brin­gen. Dazu ge­hö­ren die Epo­chen davor aber ins­be­son­de­re auch die Nach­kriegs­ge­schich­te, die häu­fig ver­nach­läs­sigt wird. Das gilt in be­son­de­rem Maße für die Ju­gend­li­chen in un­se­ren  eu­ro­päi­schen Nach­bar­län­dern, die von deut­scher Ge­schich­te oft nichts an­de­res mit­be­kom­men als das „Drit­te Reich“ und den Ho­lo­caust. Dies führt dann dazu, dass die Ste­reo­ty­pe und Vor­ur­tei­le über das heu­ti­ge Deutsch­land di­rekt aus der Na­zi-Zeit ab­ge­lei­tet wer­den.


Wie ist es zu die­ser ein­sei­ti­gen Ge­schichts­be­trach­tung ge­kom­men?


Wir haben die vor­han­de­ne For­schungs­li­te­ra­tur zur „Ho­lo­caust Edu­ca­ti­on“ sehr genau durch­ge­se­hen und nir­gend­wo ge­fun­den, dass die er­heb­li­chen psy­chi­schen Be­las­tun­gen der jun­gen Men­schen und die Be­ein­träch­ti­gun­gen der so­zia­len Iden­ti­täts­ent­wick­lung ex­pli­zit an­ge­strebt wer­den. Wir haben die Richt­li­ni­en der Bun­des­län­der und sons­ti­ger in­vol­vier­ter In­sti­tu­tio­nen zur Kennt­nis ge­nom­men und nir­gend­wo steht: Ja, das wol­len wir er­rei­chen!  Es wer­den nur un­ter­stüt­zens­wer­te Er­zie­hungs­zie­le for­mu­liert. Von daher er­gibt sich eine  be­acht­li­che Dis­kre­panz zwi­schen der er­zie­he­ri­schen In­ten­ti­on und dem er­zie­he­ri­schen Ef­fekt.  Diese Dis­kre­panz soll­te der Aus­gangs­punkt für eine selbst­kri­ti­sche päd­ago­gi­sche Re­fle­xi­on sein.


Gab es im Zu­sam­men­hang mit dem deut­schen Selbst­bild auch po­si­ti­ve Er­kennt­nis­se?

Wenn es um Be­zie­hungs­pro­ble­me zwi­schen In­di­vi­du­en geht, be­to­nen alle Psy­cho­lo­gen ge­gen­über ihren Kli­en­ten uni­so­no:  Man kann Sie erst lie­ben wenn Sie sich selbst lie­ben kön­nen. Und das fällt den Deut­schen als Grup­pe sehr schwer: sich selbst zu lie­ben. Für die Un­ter­su­chung war sehr wert­voll, dass das so­ge­nann­te „Som­mer­mär­chen“ der Fuß­ball-WM 2006 in den Un­ter­su­chungs­zeit­raum fiel. Da konn­te man sehen, dass die lo­cke­re Selbst­lie­be der Deut­schen bzw. bes­ser die Fä­hig­keit, sich selbst zu fei­ern, bei den Mi­gran­ten und Gäs­ten aus dem Aus­land er­staun­lich gut ankam. Man kann dar­aus schlie­ßen, dass wir kol­lek­ti­ve Iden­ti­täts­kon­struk­tio­nen be­nö­ti­gen, die po­si­ti­ve In­hal­te auf­wei­sen und die Deut­sche und Mi­gran­ten zu­sam­men­füh­ren.

 

Das In­ter­view führ­te Ro­bert Hahn, Pres­se und Kom­mu­ni­ka­ti­on

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